Samstag, 10. Januar 2015

Gigi oder Ärger über Rubinowitz

Zu welcher Sorte Mensch sollte man sich zählen, wenn man sich im fortgeschrittenen Alter in Internetforen „herumtreibt“? Muss man sich deshalb schämen? Oder ist die Frage falsch gestellt und man sollte sich besser fragen: Zu welcher Sorte Mensch sollte man sich zählen, wenn man zu fragen imstande ist, zu welcher Sorte Mensch man gehöre?

Dass es im 21. Jahrhundert dabei nicht  um menschliche Rassen geht, mit dem „Rassebegriff“ hat man ja doch ein-für-alle-mal - Schluss gemacht hat, sollte sich von selbst verstehen.
Vielleicht ist das aber auch gar nicht von Bedeutung. Aber was ist schon von Bedeutung? Sind wir als Individuum von Bedeutung? Ist wirklich jedes Leben von Bedeutung? Wenn ja, worin besteht sie, die Bedeutung? Ist sie jedem Leben inhärent oder müssen wir sie dem Leben erst verleihen? Und wenn, warum verleihen  wir sie bloß und geben sie nicht hin, ganz und gar, ohne Möglichkeit des Widerrufs?

Auch wenn man sich nicht zu den Jüngern verschrobener „Esoterik“ zählen will, die meinen, dass der Flügelschlag eines einzigen Schmetterlings auf der einen Seite der Welt geschlagen, auf der ihr gegenüberliegenden einen Wirbelsturm auszulösen die Kraft entwickle, müssen wir uns eingestehen, unsere Handlungen zeitigen Wirkungen und Ergebnisse, und diese Ergebnisse haben wiederum Folgen, die ihrerseits zu Folgen  und Ergebnissen führen, auch wenn sich diese unter Umständen erst nach Jahrzehnten offenbaren.

Über den Wert des Internets im Allgemeinen und seiner „sozialen Plattformen“ auf denen zu oft mit  großem Eifer ein inniges Bestreben sichtbar wird, anstelle eines sonntäglichen Stammtisch-Besuchs, so wie es Tradition wäre in unserem Land, die eigene, meist wenig durchdachte Meinung lauthals zum Besten zu geben, kann man durchaus unterschiedlicher Ansicht sein. Während die einen die ungeheuren Möglichkeiten des öffentlichen Meinungsaustausches feiern, die völkerverbindende Wirkung dieser internationalen Vernetzung rühmen, sehen die anderen darin eine Verkümmerung des direkten Austausches, der Vereinzelung,  beklagen den Niedergang der Sprache.
Unbestritten ist: Das Internet führt Leute zusammen! Ob diese im Grunde „wertfreie“ Funktion zum Positiven oder zum Negativen verwendet wird, ist natürlich den Vorlieben und Gelüsten der Teilnehmer beziehungsweise den seelischen Abgründen und Verirrungen derselben überlassen.

Im nachfolgenden Fall  zeigte sich jedenfalls des Internets erfreuliche, das Leben bereichernde Tendenz. Und das kam so:

Ich hatte mich gerade eben über einen Text geärgert, dem erst unlängst ein nicht unmaßgeblicher Preis verliehen wurde:


Neulich bekam ich eine Freundschaftsanfrage über Facebook. Ich
bekomme oft solche Anfragen und weiß immer nicht, ob ich sie
beantworten soll, was sie mir bringen könnten, mal davon abgesehen,
dass Facebook ein Wartesaal für Idioten ist und ich mich seit Jahren
frage, was mache ich hier eigentlich, aber dann kam eben diese Anfrage,
und die war interessant, und vielleicht läuft es ja darauf hinaus, dass wir
alle auf sowas warten. Die Anfrage kam von einer Irma, und ich wusste
augenblicklich, wer das ist. Es waren ja nur ein paar Monate, und jetzt
sind 30 Jahre vergangen. Und alles begann und endete mit einem Zettel
auf dem Küchentisch.



Geärgert  auch deswegen, weil mir diese Zeilen einen  geradezu idealen Übergang von einem zum anderen Gedanken zu  vermasseln drohten, den ich selbst zu nutzen beabsichtigte. Egal, denke ich, warum nicht mit eben demselben nur deswegen nicht beginnen, weil sich eine im Grunde unbedeutende Jury in Kärnten auf diesen einen, wie ich meine, gar nicht so großartigen Text geeinigt hatte; sich darüber hinwegzusetzen, sollte doch nicht schwer fallen.

Also; neulich bekam ich eine Freundschaftsanfrage über Facebook. Ich bekomme allerdings, ganz im Gegensatz zu Rubinowitz, solche Anfragen höchst selten. Das hat naturgemäß mit mir zu tun und den Vorteil, dass ich meistens nicht wie er von Idioten, sondern durchwegs von Leuten angefragt werde, die man gerechterweise nicht dieser Gruppe zuordnen darf.

Auch die Frage, was ich dort, was ich auf Facebook tue, stellt sich mir tatsächlich selten; es ist mir klar: Ich pflege Freundschaften, die anders zu pflegen nicht gerade unmöglich, so doch schwierig wäre;  und dann kam also diese Anfrage, die auf den ersten Blick wenig interessant erschien, weil ich im Gegensatz zu Rubinowitz überhaupt nicht wusste, wer diese Frau, die offensichtlich darauf aus war, in meinen unbedeutend kleinen Freundeskreis aufgenommen zu werden, sein könnte. Nein, sie hieß nicht Irma.

Das mit der Anfrage mitgelieferte Bild, zeigte eine Frau, mir gleichaltrig schätzte ich sie ein, rundliches, freundliches Gesicht, unauffällig, Hausfrau und Mutter auf den ersten Blick, aber man täuscht sich oft, denke ich sofort, hinter solchen Allerwelts-Typen verbergen sich hin und wieder Genies, denen ob des ungerechten ersten Eindrucks oft Abbitte geleistet werden muss. Vielleicht doch eher eine Mathematikerin mit Lehrauftrag der Technischen Hochschule und Aussicht auf den Nobelpreis? Wer weiß?
Während dieser Gedanke noch unabgeschlossen, sich in die Weiten der Phantasie ausdehnte, verfing sich meine Aufmerksamkeit in einer kleinen, dem Gesicht eigentümlichen Besonderheit, die mir diese  Unbekannte näherzubringen schien. Ein zweiter Blick belehrte mich, es war kein Allerweltstyp, der mir da entgegen sah. Eine kleine Unregelmäßigkeit in der vorderen Zahnreihe war es, die mir auffiel. Eine Erinnerung, nein, eine Ahnung einer Erinnerung nur, schien sich zusammenzubrauen.

Da war doch vor vielen Jahrzehnten Gigi ein kleines süßes Mädel von dreizehn Jahren gewesen, eines mit tiefgründig intelligenten Augen und wachem Verstand, die ihre blonden Haare in einer Art trug, wie sonst keine; Haare hatte sie, die starken Flüssen gleich von rechts und links  in ein gemeinsames Bett gebracht, zu einem kunstvollen Zopf verflochten, den verführerisch jugendlichen Nacken dem Blick freilegten. Eine der ersten Verliebtheiten.
Gigi fand mich einst wert, mit ihr Hand in Hand zu gehen; lud mich zu einem Spaziergang in die Grazer Altstadt, führte mich von der Bürgergasse die Treppe zum Dom hinauf, um mich oben an dessen Hinterseite noch zu einem Besuch der Taufkapelle zu überreden. Einzelheiten darüber hinaus, sind für immer verloren. Ich weiß nur noch vom unbändigen Wunsch, ihr dort vor dem Angesicht der Heiligen einen Kuss abzuverlangen und von den schmerzlichen Zweifeln, ob es gestattet sei, diesen Wunsch zu äußern; weiß noch von den Zweifeln,  ob Aussicht auf Erfüllung bestehe. Meine Phantasie  sagt mir heute ganz gegen meine Erinnerung: er wurde mir in zartester, in unschuldigster Weise gewährt.

Wie die Sache zu Ende ging?
Sie ging zu Ende wie „Liebessachen“ im Alter von dreizehn Jahren eben zu Ende gehen. Ohne großen Streit, ohne Vorwürfe, ohne, dass ein Weltuntergang befürchtet hätte werden müssen. Sie verlief sich die Liebe, ohne dass ihr Ende  eines lauten Donnerschlags bedurft hätte.
Auf diese Weise beendet, befähigte diese ehedem gebrochene Herzens-Verbindung durch ihre unvorhersehbare gedankliche Auffrischung nach fünf Jahrzehnten zu erinnerten Glücksgefühlen, die den meisten ungetrennt gebliebenen Liebespaaren wohl verwehrt bleiben.

Ich sollte diese Anfrage annehmen, dachte ich.





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