Mittwoch, 16. Oktober 2019

Das Erbe der Väter


Prolog

Dass den Nachkommen etwas von dem zufallen solle, was Vorfahren an Gegenständen geschaffen oder angesammelt, an Vermögen erwirtschaftet, an gesellschaftlicher Stellung erreicht haben, ist ein uraltes Rechtsinstitut der Zivilisation. Dass der Nachkomme sich deswegen manchmal genötigt sah, den dem eigenen Ruhm im Weg stehenden Vorfahren mit brachialer Gewalt vom Leben zum Tod zu befördern, um so endlich dessen Nachfolge antreten zu können, wie uns nicht zuletzt durch die Geschichte des Heiligtums der Diana Nemorensis, der Diana des Waldes der Albaner-Berge, eindrucksvoll dokumentiert wird, mag uns heute zumindest befremdlich, wenn nicht gar abstoßend erscheinen. Die Gewaltakte im Hain von Aricia waren begleitet von der Gewissheit, dass dem dabei Erfolgreichen, dann, wenn einstmals auch seine Kräfte nachgelassen haben werden, unvermeidlich dasselbe Schicksal ereilen wird.
Wir Zeitgenossen einer angeblich humanistisch-orientierten Friedensperiode gehören einer Generation an, die ihre Vorfahren meist nicht mehr mit der Axt erschlägt, obwohl sich kaum eine Generation der gesamten Population würde finden lassen, die berechtigt mehr Gründe gehabt hätte, ihre Vorfahren zu erschlagen, als die unsere. Einen großen Teil der zivilisierten Welt innerhalb eines halben Jahrhunderts zweimal in Schutt und Asche zu legen, ist sonst niemandem gelungen als ihnen, unseren Vorgänger-Generationen. Aber noch ist das Ende der Geschichte nicht erreicht. Vielleicht gelingt es uns ja doch noch, die beiden „Kriegsgenerationen“ in ihrem zerstörerischen Tun zu übertreffen?
Unsere Vorfahren haben, damit meine ich unsere inzwischen zu einem Großteil bereits friedlich und durchaus auf natürlichem Wege verstorbenen Väter und Großväter - so behaupten wir ihre Nachfolger im Gleichklang mit ihren ehemaligen Feinden – ein Ausmaß von Schuld auf sich geladen wie kaum eine andere Generation zuvor. Nicht nur ihre ehemaligen Feinde auch die Historie gibt dieser Behauptung recht. Aber wem gibt die Historie nicht recht? Wenn es um die Zuweisung von Schuld geht, gab sie schließlich noch jedem recht, wenn er nur geschickt genug zu fragen verstand. Also lasst uns wohlgemut in den Hain von Aricia eintreten und die Vorfahren mit ihrer eigenen Axt erschlagen? Diese Tat wäre wohl die einzige, die uns endgültig reinwaschen, die endgültig Schluss machen könnte mit den Vorstellungen der Blutsbande und der darauf sich stützenden „säkularen Erbsünde“, mit der man uns Nachgeborene erfolgreich und beständig in unsere Schuld verstrickt, die doch nicht die unsere ist.
Nun, wer eine Erbfolge anzutreten gedenkt, dem empfiehlt sich zuvor, ein Inventar zu erstellen:

Inventar Nr. 1
Aus dem direkten Nachlass meines Vaters fiel mir, seinem zweiten Sohn, folgendes zu:
Erstens: ein Schladminger, nach mehr als zwanzigjährigem Getragenwordensein immer noch wärmend; ab Anfang Dezember oft auch schon früher aus dem Kasten geholt; zu allen Anlässen, bei jedweder Gelegenheit tragbar, sogar bei sportlicher Betätigung wie dem Eisschießen, obwohl wegen seines panzerartigen Charakters freier Bewegung äußerst hinderlich.
Zweitens: ein etwa fünfundzwanzig Zentimeter langer (in seine Einzelteile zerlegbarer) Fliegerdolch mit Elfenbeingriff, in verchromter Scheide, mit zwei Anhänge-Ösen für die Verbindung zur obligaten ledernen Uniform-Koppel, um die Taille des Trägers geschlungen; der Dolch und das braune Band des Afrika-Corps, der Nachweis eines Einsatzes unter General Rommel bei El Alamein, durfte ausschließlich zur Flieger-Ausgeh-Uniform der Deutschen Wehrmacht getragen werden.
Drittens: eine alte mit Stahlseiten bespannte Wander-Gitarre, die in der Nachkriegszeit „im Schleich“ gegen eine viel kostbarere Kontra- Gitarre, wenn auch gegen eine Ausgleichszahlung von zwei Kilogramm Mehl, eingetauscht worden war.
Viertens: ein von ihm während der Freizeit in der Waffenschmiede der Wehrmacht von Hand hergestelltes Flugzeugmodell, alle Teile aus Flachstahl gefertigt, Type: Doppeldecker (190 x140mm, siehe Foto), verchromt und lackiert.
Fünftens: ein Flobert-Gewehr, das von ihm bevorzugt zu Schießübungen auf Spatzen verwendet wurde. Sechstens: eine alte Werkbank, aus Großvaters Wagner-Werkstätte und eine ebenso daraus stammende unkomplette Werkzeugausstattung, bestehend aus einer alten schweren, elektrischen Handbohrmaschine, diversem Klein-Werkzeug, Schraubzwingen, Schraubenzieher, zwei Reifmessern, einem Dengelstock und einem Dengelhammer, zwei Sensen und einem Schmiede-Schraubstock, einigen großen Holzhandbohrern, einem Holzstiftschlagblock und nicht zuletzt ein paar Schi-Rohlingen aus Eschenholz, ungebraucht und ohne Bindung.

Zwischenstück

Ein paar, der mir vererbten Gegenstände, werde ich auch an meine Nachkommen weitergeben können. Den Doppeldecker, die Werkbank, den Holzstiftschlagblock, einige Holzhandbohrer, ebenso die Schirohlinge, die wohl auch weiterhin niemals mit Schnee in Berührung kommen werden.
Den Fliegerdolch habe ich bereits als Kind in seine einzelnen Teile zerlegt, und viele davon verloren, die letzten Teile sind dann bei einem der zahlreichen Wohnungswechsel der Familie abhanden gekommen. Die Wandergitarre, mit der hin und wieder, in feuchtfröhlicher Stunde, der „Westerwald“ begleitet wurde, wurde von meinen Kindern in übermütigem Tun ruiniert. Irgendwann einmal, in einem unbeaufsichtigten Moment, hatten sie sich den Spaß gemacht, mit ihren Taschenfeiteln Löcher in den Corpus zu bohren und ihn so in Brennholz zu verwandeln. Auch das Flobert-Gewehr gibt es nun seit mehr als dreißig Jahren nicht mehr. Zuletzt hatte es dazu herhalten müssen, die Haus-Schlachtungen von Schweinen und Schafen zu bewerkstelligen, bis es eines Tages endgültig den Geist aufgab, als es darum ging, ein dem Hasenstall entlaufenes Jungtier, das, um sein Leben zu retten, versucht hatte, sich in der Tenne hinter einer alten Dreschmaschine zu verstecken, mit einem gezielten Schuss doch noch dem Kochtopf zu erhalten. Die Flinte ging dabei, vermutlich auf Grund von Alterschwäche, mit einem letzten unglaublichen Knall sowohl nach vorne als auch nach hinten los. Der Hase war zwar getroffen und tot, aber mir dem Schützen hatte das durch den Verschluss nach hinten herausschlagende Pulver die rechte Augenbraue weggesengt. Das Gewehr landete daraufhin im Alteisencontainer. Der Jung-Hase erfreulicherweise in der Bratpfanne; leicht angebraten, mit Wurzelwerk, Paradeisern und Rotwein eingekocht mit Peperoncini und Erdäpfeln als Beilage.
Das ist übrigens kein Rezept meines Vaters, obgleich er mir, das soll nicht vergessen werden, die Liebe zum Kochen vererbte.

Inventar Nr. 2
Aus dem indirekten Nachlass meines Vaters fiel mir zu:
Erstens: die Mitschuld an der millionenfachen Vernichtung von Menschen jüdischen Glaubens in den Vernichtungslagern des sogenannten Dritten Reiches.
Zweitens: die Mitschuld an etwa 60 Millionen Kriegstoten des Zweiten Weltkriegs.
Drittens: die Mitschuld an der Deportierung und Vernichtung einer großen Anzahl von Roma, Sinti, Lowara und Kalderasch, von homosexuell veranlagten oder behinderten Menschen und vielen politischen Gegnern des NS-Regimes.
Viertens: die Mitschuld daran, dass ein Großteil der deutschsprechenden Intelligenz, um ihr Leben zu retten, ins Ausland emigrieren musste.
Fünftens: die Mitschuld an der Ausbeutung von zwangsarbeitenden Kriegsgefangenen.
Sechstens: die Mitschuld an wiederaufkeimenden antisemitischen Tendenzen in der Nachkriegszeit.
Siebtens: die Mitschuld an der mangelhaften Entnazifizierung der öffentlichen Ämter in der Zweiten Republik.
Achtens: die Mitschuld an der Restitutionsunwilligkeit der Zweiten Republik, die sich bekanntlich lange und standhaft weigerte, das einstmals arisierte Privateigentum jüdischer Bürger, insbesondere deren Kunstgegenstände, zurückzuerstatten.
Neuntens: die Mitschuld an der Weiterverwendung ehemaliger NSDAP- Mitglieder als Lehrer und Professoren im öffentlichen Bildungswesen.
Zehntens: die Mitschuld ……. …….

Epilog

Geht man vom Normalfall aus, würde man beim Ableben eines Vorfahren als präsumtiver Erbe gefragt werden müssen, ob man wirklich ernsthaft Willens sei, das Erbe anzutreten oder ob man sich lieber des Erbes entschlagen möchte. In jedem Falle wäre es üblich, ein Inventar wie oben zu erstellen, in dem alle Positiva und Negativa aufgelistet, helfen sollten, eine wohldurchdachte Entscheidung herbeizuführen. Angesichts des hier erstellten, wäre der Wunsch, das Erbe abzulehnen, nicht sonderlich schwer verständlich.
Dass man uns Nachkommen zu fragen vergaß, sollte, im Wissen, dass schon der Versuch der Entschlagung als unverzeihliche Negation des Geschehenen, als unentschuldbare Relativierung nationalsozialistischer Gräuel und Missachtung der zahlreichen Opfer, wenn nicht gar als Wiederholungstat beurteilt würde, dennoch nicht unerwähnt bleiben.

© Max Untier 2015



© Foto: Max Untier, (Doppeldecker-Modell, Stahl verchromt und lackiert, 14,5 x 19 cm)




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