Donnerstag, 7. Juni 2018

Wien ist mir verhaßt

Wien ist mir verhaßt. Ich laufe zweimal die Kärntnerstraße und den Graben auf und ab und werfe dann noch einen Blick in den Kohlmarkt hinein, das genügt, daß es mir den Magen umdreht. Seit dreißig Jahren dasselbe Bild, dieselben Menschen, dieselben Stumpfsinnigkeiten, dieselben Infamien, Niederträchtigkeiten, Verlogenheiten. [...]
Wien ist heute eine durch und durch proletarisierte Stadt, für welche ein anständiger Mensch nurmehr noch Spot und Hohn und tiefste Verachtung übrig haben kann. Was in ihr groß oder auch nur beachtenswert gewesen ist, verglichen mit der übrigen Welt, ist längst tot, die Gemeinheit und die Dummheit und die mit diesen beiden gemeinsame Sache machende Scharlatanerie beherrschen die Szene.
Mein Wien wurde von geschmacklosen und geldgierigen Politikern von Grund auf ruiniert, es ist nicht mehr wiederzuerkennen. An manchen Tagen weht noch die frühere Luft, aber nur für kurze Zeit, denn deckt der Abschaum, der sich in dieser Stadt in den letzten Jahren breitgemacht hat, wieder alles zu. Die Kunst ist in dieser Stadt nurmehr eine ekelerregende Farce, die Musik ein abgeleierter Leierkasten, die Literatur ein Alptraum und von der Philosophie will ich gar nicht reden, da fehlen selbst mir, der ich nicht zu den allerphantasielosesten gehöre, die Wörter.....
(Thomas Bernhard, Städtebeschimpfungen, Suhrkamp,  2.Auflage, 2017 S. 165)

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